Dienstag, 21. November 2023

Argentinische Krankheit: Warum der Kettensägenmann scheitern muss

Der Kettensägenmann kündigte eine liberale Radikalkur an, die in Berlin, Hamburg und Köln als Himmelfahrtskommando.

Eben erst war es gelungen, Brasilien und Polen zu befreien, nun aber kippt Argentinien. Wie zuvor schon Italien droht ein weiteres Land an einen Halbfaschisten zu fallen, ohne dass Deutschland befragt oder um einen guten Rat gebeten wurde. Mit Javier Milei hat ein "selbst ernannter Anarchokapitalist" (NZZ) die Präsidentschaftswahl in der zweitgrößten Industrienation Südamerikas gewonnen. 

Ein "Anti-Establishment-Kandidat", dem Trump gratuliert, während deutsche Medien außer sich sind. Ein "Ultraliberaler" (Die Zeit) mit Boris-Johnson-Frisur, genannt "die Perücke" (Der Spiegel), zweifelsfrei "rechts" (ZDF) oder sogar "Rechtspopulist" (Deutsche Welle), vor dem schon als "Zerstörer mit der Kettensäge" gewarnt worden war, als die Argentinier noch Zeit gehabt hätten, das Schlimmste zu verhindern.

Die Daheimgebliebenen sind ratlos

Nun ist es zu spät. Nun war es nicht mal "knapp" (Taz). Die "globale Rechte" (Der Bund) jubelt, die Daheimgebliebenen sind ratlos. Nur weil die Argentinier nach Jahren mit galoppierender Inflation, wirtschaftlicher Depression und Dauerkrise sich gegen ein Weiterso entschieden, kann es doch kein Verständnis für die Wahl eines Kandidaten geben, der versprochen hat, alle Brandmauern einzureißen, die bisher als Außenwände des argentinischen Staates galten. Der Peso soll durch den US-Dollar als Landeswährung ersetzt werden, nach zuletzt 150 Prozent Geldentwertung eigentlich nur noch der offizielle Vollzug einer längst gefallenen Entscheidung. 

Die eigene Zentralbank kann dann auch weg, dazu eine Handvoll Ministerien und das, was Milei als übertriebene Auswüchse des Sozialstaates bezeichnet, aufgebaut von den seit zwei Jahrzehnten regierenden linken Peronisten, die aus dem Staat auch wirtschaftlich eine allmächtige Zentralinstanz gemacht hatten, der mit immer neuen Schulden subventioniert, was die Menschen nicht mehr selbst bezahlen können. Und inzwischen vielerorts mehr Angestellte ernährt als private Unternehmen. 

Alles auf Schulden gebaut

Der Rückgang der Armut um 71 Prozent und der extremen Armut um 81 Prozent, für den sich die Peronisten vor zehn Jahren feiern ließen, verdanke sich allein einem der größten Sozialprogramme aller Zeiten. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds wuchs das Pro-Kopf-BIP um 42 Prozent, fast dreimal so schnell wie Mexiko. Zugleich verdoppelten sich die Auslandsschulden der 45 Millionen Argentinier auf 400 Milliarden US-Dollar. Gerade ist das Land wieder einmal kurz davor, seine Zahlungsunfähigkeit erklären zu müssen. Es wäre das neunte Mal.

Mileis angekündigte liberale Radikalkur gilt von Berlin, Hamburg und Köln aus gesehen als Himmelfahrtskommando. Die "Tagesschau" fand mit Mark Weisbrot vom US-Forschungsinstitut Center for Economic and Policy Research sogar einen Wissenschaftler, der wenig genug von der Geschichte Südamerikas versteht, im Kettensägenmann ein Unikum zu erkennen. "Niemand mit so extremen Ansichten in Wirtschaftsfragen ist je zum Präsidenten eines südamerikanischen Landes gewählt worden", beschwört der Ökonom, für den Fidel Castro, Hugo Chávez und Nicolás Maduro nie gelebt schon schon gar nicht "so extreme Ansichten in Wirtschaftsfragen" mit der Gelddruckmaschine vertreten haben, dass selbst Argentiniens Inflationsrate wie Geldwertstabilität wirkt.

Ein bedrohliches Experiment

Das Land mit dem ehemals weltweit höchsten Pro-Kopf-Einkommen, mit unendlichen Rohstoffvorräten und Bodenschätzen, die Rindfleischquelle Europas und der Lithiumlieferant der Elektrowelt, es ist heute "eines der progressivsten Länder in der Region" (Tagesschau), aber eben auch

wieder Dritte Welt. Und ein Beispiel dafür, das gute Regierungen nicht viel besser machen können, schlechte aber keine Schwierigkeiten haben, alles Gute zu vernichten. Das Bedrohliche am Experiment, dass sich die verzweifelten Argentinier 40 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur und nach 28 Jahren linker Regierungen selbst zumuten, ist deshalb die Gefahr, dass Javier Milei mit seinen Plänen durchkommen könnte. 

So wenig der 53-jährige Wirtschaftswissenschaftler durch die Mahnungen und Warnungen vor dem Chaos aufzuhalten war, das er zweifellos anrichten werde, so wenig folgenlos bliebe sein Politikwechsel weg von massiven Eingriffen des Staates in die Wirtschaft, immer weiter aufgeblähten Sozialprogrammen und einem von Parteipolitikern rundum betreuten Leben selbst im fernen Europa. Hier ist die Situation nicht vergleichbar mit der in Argentinien, noch ist Speck an den Rippen und Mark im Knochen, der letzte Wechsel ist noch nicht geschrieben und der Euro hinter Dollar und Yuan immerhin noch drittwichtigste Handelswährung

Die argentinische Krankheit

Doch im Ansatz leidet der Weltfriedensnobelpreiskontinent schon lange auch an der argentinischen Krankheit: Die Wirtschaft stöhnt unter bürokratischen Lasten und hohen Kosten. Die Führungselite streut Märchenmilliarden übers Land, das sie am liebsten bei denen akquiriert, die es nicht bemerken. Die vierte Gewalt ist auf eisenhartem Regierungskurs, wo immer das Ruder gerade ausschlägt. Immer wieder üben sie sich sogar in der Vorwegnahme echter Milei-Parolen: Vom "Wiederaufbau" ist dann die Rede, von "Inflation, Stagnation, fehlenden Arbeitsplätzen, Unsicherheit, Armut und Elend" und davon, dennoch bald "eine Weltmacht zu werden." 

Die Dopingmittel, die Brüssel und Berlin dazu verwenden, sind allerdings die, die in Argentinien bereits versagt haben. Behördenansiedlung, Bürokratieausbau, neue Verwaltungsbauten und Elfenbeitürme ohne erkennbaren Zweck, dazu Sozialleistungen, die immer weniger Zahler für immer mehr Empfänger in immer großzügigerem Maße aufbringen müssen. Die "Tagesschau" wünscht sich so sehr, dass "seine Wähler die größten Verlierer sein" mögen. Das muss. Denn ist es erst mal zu spät, wird es auch hier wahrscheinlich nicht mal mehr "knapp" (Taz) werden.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Was für ein Glück für unsere Presse- und Politvielfalt, dass es hier niemanden gibt, der so eine Show aufziehen könnte. Kommt ja vielleicht noch, aber wenn, dann aus einer ganz anderen Ecke als erwartet.